Sinn und vor allem Unsinn des Geotaggings auf Nachrichten-Sites

Ereignisse passieren an bestimmten Orten oder sind für Leser in bestimmten Regionen und Ländern von besonderem Interesse. Die Idee liegt nahe, die geographische Lage oder Relevanz zu veranschaulichen.

Bieten die Journalisten dem User mit den bislang vorhandenen Tools aber tatsächlich einen Mehrwert?

Nachrichten-Weltatlas auf Tagesschau.de mit zweifelhaftem Mehrwert

Ganz vorne mit dabei ist Tagesschau.de mit dem Nachrichten-Weltatlas. Alle Nachrichten werden seit einigen Monaten mit ihrem lokalen Bezug versehen. Der Nutzer kann auf einer interaktiven Karte mit Welt-, Kontinent- und Länderansicht die Orte erkennen, denen eine Nachricht zugeordnet wurde.

Grafisch sehr schön gelöst. Klingt toll, passt zum Google-Maps-Mashup-Hype und verdient das Wort „innovativ“.

Aber verdient es auch das Wort „sinnvoll“?

Die Deutschen haben mehr Lust auf Konsum – Nürnberg bekommt die Nachricht, denn dort sitzt die GfK, die das ermittelt hat, obwohl die Nachricht sich eigentlich a) auf Deutschland bezieht und b) für Leser in ganz Deutschland von Interesse ist. Sinn?

Die Bioraffinerien in Iowa bersten vor Aufträgen und die Amerikaner sollen mehr Bio-Kraftstoff tanken – Washington D.C. bekommt diese Nachricht. Sinn?

Der User, der beim Nürnberger Icon eine regionale Nachricht erwartet wird enttäuscht und der an nationalen Nachrichten interessierte User verpasst wahrscheinlich die Nachricht, da er eine solche nicht unbedingt in Nürnberg vermutet. Alternativ kann er natürlich alle Nachrichten-Icons mit der Maus abfahren…

Im Gegenzug werden Nachrichten mit relevantem geographischen Bezug nicht auf der Karte angezeigt. Beispiel: Auf einer Artikelseite über den Bundeswehreinsatz in Kongo wird mit dem Kartenausschnitt Afrika auf den Nachrichten-Weltatlas aufmerksam gemacht. Folgt man dem Link gelangt man – genau – zur Welt- statt zur Afrikaansicht und findet dann in Afrika: nichts, kein Icon weit und breit.

Ich mag ja etwas übersehen, aber ich kann hier beim besten Willen keinen sinnvollen Anwendungsfall erkennen. Zudem grenzt die hier praktizierte Verbindung von Nachricht und Ort z.T. an falsche Berichterstattung.

Readers Edition ansatzweise besser

Bei der Readers Edition der Netzeitung ist man sich anscheinend noch nicht so ganz sicher, wozu man denn nun das Geotagging nutzen möchte.

Die geographische Positionierung wird auf Google Maps mittels der bekannten Marker angezeigt. Durch Klicken auf einen solchen Marker bekommt man die Überschrift angezeigt.

Aber was ist dort eigentlich „ge-geo-tagged“? Die Funktion „Artikel auf der Karte“ und die Markierung mancher Artikel lässt vermuten, dass tatsächlich die geographische Lage des Ereignisses angezeigt wird.

Die Alt-Texte der entsprechenden Links (rotes „G“ unter Artikel) versprechen jedoch den Ort des Autors…

Die Nachrichten-Karte ist genau so arm an Mehrwert wie die bei Tagesschau.de.

Schön hingegen ist, dass man vom Artikel direkt zur Karte gelangt. Hier muss allerdings z.T. noch nachgebessert bzw. exakter gearbeitet werden. Beispiel: wenn der Ort eines Artikels Raleigh, USA, ist, dann dürften fast nur Leute wie ich, die dort zufällig mal ein Jahr gelebt haben, wissen, wo diese Stadt liegt. Statt also direkt auf die Stadtgebietskarte von Raleigh zu zoomen macht ein Kartenausschnitt der USA oder der Ostküste der USA mehr Sinn.

Neben dem Plus an Mehrwert gegenüber der Tagesschau-Lösung ist die von der Readers Edition angewendete Lösung mit Sicherheit bedeutend kostengünstiger umzusetzen und somit auch für kleinere Sites eine gute Alternative.

In beiden hier genannten Beispielen erfolgt das Geotagging manuell. Einen anderen Weg geht die Site Buzztracker, die automatisch weltweit Nachrichtensites analysiert.

Buzztracker scheitert automatisch

Automatisch werden die relevanten regionalen Bezüge erkannt und graphisch ansprechend aufbereitet auf einer Weltkarte dargestellt. Die Größe eines roten Kreises um eine Stadt kennzeichnet die „Nachrichten-Aktivität“. Zudem werden Beziehungen zwischen Orten mittels Verbindungslinien dargestellt.

Tolles Spielzeug und doch leider aus meiner Sicht ziemlich wertlos.

Was soll man mit einem Tool anfangen, das eine Nachricht New York zuordnet, weil die New York Times darüber berichtet hat? Welchen Nutzen hat ein Tool, das eine Stadt als sehr nachrichtenaktiv darstellt, weil es eine Meldung einer lokalen Nachrichten-Site bis zu sieben Mal ausgelesen hat?

Hier stößt die Technik an Ihre Grenzen.

BBC: Viel Aufwand für wenig Mehrwert

Wurden in den bislang genannten Beispielen die Nachrichten geografisch markiert, so geht die BBC einen anderen Weg. Sie zeigt, auf welchen Kontinenten welche Artikel besonders beliebt sind. Statt ihn also unabhängig von der Relevanz über die geographische Lage des Ereignisses zu informieren, soll mit ihrer Hilfe versucht werden, dem Leser möglichst relevante Nachrichten zu servieren.

Auch hier wurde reichlich Geld in eine sehr schöne, technisch aufwändige Lösung investiert.

Und mit welchem Ergebnis: Der Leser aus Mailand oder Schladming bekommt zum Zeitpunkt meines Kurztests in sieben der Europa-Top-10-Artikel Nachrichten präsentiert, die ausschließlich eine englische Leserschaft interessieren dürften. Wert für Leser in 95% des Kontinents Europa? Minimal.

Ähnlich dürfte es z.B. den Lesern aus Südkorea, Vietnam und Saudi-Arabien ergehen, die sich eine gemeinsame Asien-Top-10-Liste teilen müssen (Sinnvoller sind hingegen die themenorientierten Top 10-Listen auf der Site der BBC, aber das hat nichts mit Geotagging zu tun.).

Jede Minute werden die Ranglisten aktualisiert. Auch das klingt hervorragend, ist aber völlig überflüssig. Welcher User benötigt eine solche Update-Frequenz?

NYTimes: die geographische Lage als Teil der Information sinnvoll integriert

Wiederum einen anderen Weg geht die NYTimes, die mit einem – zugegebenermaßen abgekupferten – Tool die geografische Lage von Verbrechen in New York City zur leicht verständlichen Nachricht macht.

Die geografischen Daten bestimmter Verbrechensarten wurden für mehrere Jahre eingelesen und mittels eines Google-Map-Mashups für jeden Borrough der Stadt und gefiltert nach Jahr und Art grafisch auf der Karte angezeigt.

Jeder Nutzer kann somit sehr leicht die Verbrechensschwerpunkte ausmachen und zudem die Entwicklung über mehrere Jahre verfolgen.

Dieses ist ein Beispiel, wie die geographische Lage von Ereignissen auf sinnvolle Art und Weise dem Nutzer zur Verfügung gestellt werden kann.

Echter Mehrwert statt technischer Spielereien ist möglich

In den am Anfang diskutierten Fällen wünscht man sich jedoch Änderungen. In der derzeitigen Diskussion über die Rolle der Journalisten in Zeiten von Blogs und Citizen Journalism wird immer wieder auf die bewertende und selektierende Rolle der Journalisten verwiesen.

Würden die Journalisten diese Aufgaben in vollem Umfang erfüllen, könnte Geotagging sehr viel sinnvoller eingesetzt werden. Es würde sinnvoll in einen Use Case eingebunden werden (wie im Fall der Readers Edition) und nur dann zum Einsatz kommen, wenn es wirklich einen Mehrwert für den Leser bietet.

Mittels eines Klicks könnte der User z.B. erfahren, wo Kongo liegt oder wo sich das Hauptquartier der deutschen Truppen befindet und im Gegenzug würde man ihn nicht bei jeder Regierungserklärung darauf hinweisen, dass diese aus der Mitte Berlins kommt.

Zudem zeigen die Readers Edition und bedingt auch die NYTimes, dass die Implementierung eines sinnvollen Features nicht unbedingt eine teure Spezialanfertigung der Software benötigt.

Kommentare

Die Kritik ist sicherlich berechtigt und noch immer stichhaltig. Die Aufgabenstellung ist jedoch keine leichte, auch weil hier eine neue Herausforderung für den Journalismus liegt, bei der etwa Player wie Google (mit enormer technischer Expertise) die Latte recht hoch legen (inkl. eines Versprechens einer rein technischen Machbarkeit z.B. eines Selektionsprozesses/Gatekeepings).

Dem Hinweis, dass nicht technische Spielereien sondern mit Mass und Ziel eingesetzte Lösungen den Mehrwert bringen, ist voll zuzustimmen. Die Kunst liegt im klaren Blick durch den Hype, was mit der Selbstbesinnung auf den genuinen Auftrag (wie im Artikel skizziert), gepaart mit pragmatischem Umsetzungswillen und dem permanenten Gedanken an die Benutzer zu lösen ist.

17.07.07 22:58

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